Fragiler Mikrokosmos
Siebzehn Jahre zwischen der Libanonkrise und dem Bürgerkrieg gelten als goldenes Zeitalter von Beirut. Rückblick auf einen Mythos.
Die Ausstellung »Beirut and the Golden Sixties: A Manifesto of Fragility« lässt ein bewegtes Kapitel der jüngeren Geschichte Beiruts wieder aufleben: die Zeit zwischen der Libanonkrise 1958 und dem Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs 1975. Sie beleuchtet diese oftmals romantisierte und von vielfältigen kulturellen Einflüssen geprägte Ära und vermittelt einen Eindruck davon, wie das Aufeinanderprallen von Kunst, Kultur und politischen Ideologien die Beiruter Kunstszene zu einem Mikrokosmos transregionaler Spannungen machte.
Die Schau zeigt Künstler*innen, deren Drang nach formaler Innovation oft ebenso stark war wie ihre politische Überzeugung. Nachdem der Libanon 1943 seine Unabhängigkeit von der französischen Kolonialherrschaft erlangt hatte, strömten Intellektuelle und Künstler*innen nach Beirut. Dank ausländischen Kapitals entstanden überall in der Stadt neue Kunsträume und Museen; zugleich war die Stadt ein Nährboden für gegensätzliche politische Einstellungen, die sich zunehmend als unvereinbar erwiesen.
Fünf thematische Sektionen stellen das breite Spektrum dieser kulturellen und politischen Entwicklungen vor. Mit seiner langen Tradition der freien Meinungsäußerung zog Beirut Menschenan, die vor autokratischen Regimen aus anderen Teilen des Nahen Ostens flohen. Im ersten Teil »Le Port de Beyrouth: The Place« untersuchen Künstler*innen aus verschiedenen Communitys der Region die komplexe Vorstellung von Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort.
Die zweite Sektion »Lovers: The Body« beleuchtet die Rolle Beiruts als Experimentierfeld, auf dem gegen die Zwänge einer heteronormativen, bürgerlichen Gesellschaft angekämpft wurde. Die Kunstszene Beiruts, in der zahlreiche Frauen und LGBTQIA+-Künstler*innen aktiv waren, beteiligte sich maßgeblich an den Debatten, die die weltweite sexuelle Revolution auslöste.
In Beiruts Kunstszene trafen die unterschiedlichsten Künstler*innen aufeinander, die sich einer breiten Palette von Techniken, Materialien und Stilen bedienten. Das vielfältige kulturelle Angebotwurde auch von internationalen Akteur*innen wie Max Ernst, André Masson, Wifredo Lam und Zao Wou-Ki geprägt.
Der dritte Ausstellungsteil »Takween (Composition): The Form« betrachtet die lokalen Diskurse zu modernistischen Tendenzen, ein Fokus liegt auf der Sonderstellung der Abstraktion der 1950er- bis 1970er-Jahre. Zudem wird die Verbindung zwischen den politischen Überzeugungen der Künstler*innen und ihrer Zugehörigkeit zu einem Stil oder einer Schule, von der orientalischen Abstraktion bis hin zum Informel, herausgearbeitet.
Die vierte Sektion »Monster and Child: The Politics« befasst sich mit den Beziehungen zwischen Kunst und Politik in den Jahren vor dem libanesischen Bürgerkrieg, bevor der Sektarismus sämtliche Bereiche des Lebens in der Stadt beherrschte. Während dieser Blütezeit der Kunst- und Kulturproduktion suchten die Künstler*innen nach geeigneten Ausdrucksformen für ihre unterschiedlichen Anliegen – vom utopischen Projekt des Panarabismus und postkolonialen Kämpfen bis hin zu spaltenden politischen Positionen dem Kalten Krieg, dem Vietnamkrieg und dem Nahost-Konflikt gegenüber.
Die letzte Sektion der Ausstellung »Blood of the Phoenix: The War« thematisiert die anhaltenden Auswirkungen des Krieges auf das kulturelle Schaffen in Beirut. Der libanesische Bürgerkrieg forderte von der lokalen Kunstszene einen hohen Tribut: Galerien und freie Kunsträume wurden geschlossen, Künstler*innen wanderten in mehreren Wellen nach Europa, in die Vereinigten Staaten und an den Persischen Golf aus – ein erster Ausblick auf das Geschehen im heutigen krisengeschüttelten Libanon. Der Krieg und seine Verwüstungen offenbarten die Unversöhnlichkeit der politischen Kräfte und entlarvten den Mythos vom »Goldenen Zeitalter«.
Während die Ausstellung konzipiert und entwickelt wurde, kam es ab Oktober 2019 zu Massenprotesten in Beirut, zur Explosionskatastrophe im darauffolgenden Jahr, einer noch nie dagewesenen Wirtschaftskrise sowie der COVID-19-Pandemie. Die Schau bewertet ein zentrales Kapitel der Stadtgeschichte im Hinblick auf diese aktuellen Krisen. Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, die in Paris und Beirut leben und arbeiten, entwickelten für die Ausstellung außerdem eine immersive Multimedia-Installation, die die Transformation von Kunstwerken durch Gewaltakte untersucht. Im Angesicht von Zusammenbruch, Katastrophe und Tod wirft die Arbeit die Frage auf: Können wir dem Chaos Poesie entgegensetzen?
Text: Sam Bardaouil, Co-Kurator der Ausstellung