Kritik in der Krise

Bastian Geza Aschoff, 2022. © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Akademie der Künste, Berlin
Sechs Tage lang wurde in Bonn und Berlin über die ZUKUNFT DER KRITIK diskutiert. Ob sie eine hat, ist aber noch längst nicht ausgemacht 

Hat die Kunstkritik ausgedient? Längst sind die Zeiten vorbei, in denen sich Kritiker noch als »Gatekeeper« des Kunstbetriebs verstanden. Ebenso massenhaft wie die Kritik produziert werde, werde sie auch ignoriert, befand bereits 2003 der amerikanische Kunsthistoriker James Elkins. »Jeder Mensch ist heute ein Kritiker« – in Anlehnung an das beuyssche Diktum lud die Akademie der Künste gemeinsam mit der Bundeskunsthalle Bonn zu einem sechstägigen Kongress an beiden Orten ein, der die »Zukunft der Kritik« verhandeln sollte.  

Ein Ausgangspunkt für die Konferenz war die grenzenlose Ausweitung der kritischen Kampfzone angesichts neuer digitaler Schreib- und Plattformen sowie kollektiver Praktiken von Kommunikationsnetzwerken. Jeder könne sich heute jederzeit zum Produzenten und Kritiker aufschwingen, so die Annahme der Initiatoren. »Ist das schon eine Demokratisierung der Kunst, und was unterscheidet sie vom Populismus?«, fragte Angela Lammert, Leiterin interdisziplinärer Akademie-­Sonderprojekte, die den Kongress zusammen mit Kolja Reichert, Programmkurator der Bonner Kunsthalle, organisierte. Tatsächlich finden mit auffallender Regelmäßigkeit Veranstaltungen statt, die den Stellenwert der Kunstkritik kritisch beleuchten und neu bewerten möchten. Dies mag weniger Ausdruck einer sich zuspitzenden Krise sein, als vielmehr aus einer konstitutionellen und institutionellen Unsicherheit der Kritik selbst herrühren, wie auch diese Konferenz veranschaulichte. 

»Multiperspektivität« war nur eines der Stichwörter, die man immer wieder hörte. Heutige Formen der »Postkritik« wurden als demokratisch, vielstimmig und divers gefeiert. Erstaunlich wenig schien man sich daran zu stören, dass die Sichtbarkeit von Kritik nicht mehr durch ein Expertentum und die Auflagenstärke sogenannter »Legacy Media« – gemeint ist die alte Medienstruktur – bestimmt wird, sondern heute unter anderem der Logik von Algorithmen folgt. »Die Implosion der alten Medienstruktur mit der Verlagerung zu dezentraler Verteilung im Netz hat die Bedingungen der Aufmerksamkeit und der kulturellen Macht völlig verändert«, erfuhr man in der »Keynote« von Caroline Busta und Lil Internet, die mit »New Models« 2018 einen unabhängigen Medienkanal gegründet haben, der sich mit den aktuellen Auswirkungen digitaler Technologie auf die Kultur beschäftigt.  

Sicher geht es nicht darum, ein digitales gegen ein analoges Publikum auszuspielen. Durch die sozialen Medien interessieren sich mehr und vor allem junge Menschen für Kunst und machen ihre Meinung öffentlich. Influencer übernehmen heute oft Funktionen, die früher Kritiker für sich beansprucht hätten. »Wofür brauchten wir Experten, als wir sie noch brauchten?«, hörte man auf dem Podium. Die verwendete Vergangenheitsform impliziert, dass man sich nicht in der Krise, sondern bereits im Status ihrer erfolgreichen Überwindung wähnt. Der Kritiker unternehme eine Deutung, die Masse tendiere hingegen zum spontanen Urteil, so die Kunsthistorikerin Julia Grosse. Auch das Lachen sei ein gängiges Mittel, Kritik zu üben. Solches nutzen zum Beispiel sogenannte Memes – Text-Bild-Parodien, die im Netz große Verbreitung finden. Die Organisatoren haben sich entschieden, die Konferenz über die gesamte Dauer von Memes auf dem Freeze-Magazine-­Account, einer Art Meme-Plattform, kritisch begleiten zu lassen. Mit Memes könne er viel unverblümter und schneller auf aktuelle Ereignisse reagieren, meinte der Künstler Cem A., der auf Instagram die Kunstwelt kommentiert und inkognito am Panel teilnahm. Doch während eine kleine Gruppe von Insidern im Netz über Parodien des Kunstbetriebs lacht, versteht der Rest der Welt diese Art von Nischenhumor nicht. Es ist nicht neu, dass Inklusion und Partizipation das Kerngeschäft gerade der Reformbewegungen autonomer Kunst bilden. Wirklich neu aber sind heute andere Formen und Themen des Aktivismus. Dieser grundlegende Strukturwandel der Kunst bedingt auch die Maßstabsverschiebung der Kritik. 

 

@cem _____a @freeze_magazine 

 

Kunstkritik entstand im ausgehenden 18. Jahrhundert aus dem Pariser Salon des Beaux Art und dem Aufkommen einer bürgerlichen Öffentlichkeit als Kriterium der Unterscheidung und war somit zuallererst ein Rangurteil, wie der Kunsttheoretiker und Philosoph Robert Kudielka in seinem Vortrag zur »Kunstkritik als Sprachspiel« verdeutlichte. »A quoi bon la critique?« (was nützt die Kritik?) – diese Frage stellte sich schon Charles Baudelaire. »Kunstkritik als Propädeutik herrschaftsfreier Kommunikation« erlange ihre Rechtfertigung aus dem Innersten der Sache selbst und so könne, laut Kudielka, eine Zukunft der Kritik nur »aus den Eingeweiden der Kunst selbst gelesen werden«.  

Klassische Bewertungskriterien existieren schon seit Beginn der Moderne nicht mehr, starre subjektorientierte Kategorien haben sich in fluiden Kommunikationsformen aufgelöst. Ein Umstand, dem offenbar nicht nachzutrauern ist, wie man erfährt. Denn die guten alten Zeiten der unabhängigen Kritik habe es laut Julia Voss (ehemals Kunstredakteurin der »FAZ«) sowieso nie gegeben und jede Nostalgie sei fehl am Platz. Vieles sei früher einfach nicht zur Sprache gebracht worden. Es stelle sich vielmehr die Frage, wie sich die Kunstkritik im gesellschaftlichen Diskurs des 21. Jahrhunderts neu positionieren ließe, um wieder relevant zu sein. Eine Antwort darauf blieb sie dem Publikum schuldig.  

Viele der teilnehmenden Kritiker haben in andere, beispielsweise wissenschaftliche oder kuratorische Tätigkeitsfelder gewechselt. Freiberufliche Kritiker brauchen nicht nur einen fachlichen Überblick, sondern auch einen gewissen Idealismus (oder finanzielle Unabhängigkeit), um auf dem umkämpften und schlecht bezahlten Markt zu bestehen. Die kapitalistische Plattform-Logik hat die Situation für diesen Berufszweig nicht einfacher gemacht. 

 

Bastian Geza Aschoff, 2022. © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Akademie der Künste, Berlin

 

In vielen Statements wird deutlich, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Kunst, Kritik und Publikum grundlegend verändert hat. Hanno Rauterberg (Kunstredakteur der »Zeit«) bringt in diesem Zusammenhang den Begriff der »Werte­gemeinschaft« ins Spiel und verweist damit auf den Rollenwechsel des Publikums vom Kunstrezipienten zum Kollaborateur. »Make friends, not art«, hieß das übersetzt auf der vergangenen Documenta. An der Documenta-Debatte über Antisemitismus könne man zudem die Wechselwirkungen zwischen etablierter Kritik und den sozialen Medien gut nachvollziehen, so Elke Buhr, Chefredakteurin des Kunst­magazins »Monopol«: »Man hat den Eindruck gewonnen, dass die Primitivität von Twitter und den sozialen Medien, wo es wirklich um das Skandalisierungspotenzial geht, eine Rückwirkung auf das Feuilleton hat, das dann doch nicht mehr so seriös erscheint, wie es vielleicht sein will.« 

Während Rauterberg der Kritik weiterhin optimistisch die Rolle des »Störenfrieds« anvertraut, ist der Kunsthistoriker und Kurator Helmut Draxler der Meinung, dass sich nicht nur an dem Documenta-Debakel zeigen lasse, wie sehr sich »der kritische Jargon heute so verselbstständigt hat, dass ganze Kunstzeitschriften eine Art Mainstream an Kritikalität performen«. Gerne würde man hier konkrete Beispiele hören, ohne die eine derart streitbare These selbst in die eigene Falle der Plattitüde tappt. Gleichwohl hätte man sich mehr Provokationen dieser Art gewünscht im Verlauf der allzu theorielastigen Tagung. Zu Recht meint Draxler: »Kritik verlangt auch immer eine Form systemischer Selbstkritik, sonst ist Kritik einfach nicht zu machen.«  

Die Zukunft der Sprache, auch das machte der Kongress mehr als deutlich, müsste ebenso zur Diskussion stehen wie die der Kritik. Heinrich Dunst, der in seiner Kunst die medialen Schnittstellen von Sprache, Bild und Skulptur untersucht, äußerte sich dadaistisch irritiert über das Symposium und die dort »eingenommenen Sprechpositionen«: »Die Sprache muss in eine Kollision treten«, forderte er. »Das Stottern bekommt eine neue Dimension. Die Form hat keinen Ort mehr. Sie springt in ein Waschbecken.« 

Die leiseste Stimme des Kongresses war die der amerikanischen Künstlerin und Aktivistin Cassie Thornten. Sie hatte den japanischen Performancekünstler Michiyasu Furutani in die Bundeskunsthalle eingeladen, der im Saal zwischen dem Publikum saß und still vor sich hinweinte. Für die Journalistin Jina Khayyer demonstrierte diese Performance die Verletzlichkeit der Künstler, aber auch die der Kritiker, die sich hinauswagen und eine These formulieren. Das erfordere Mut.  

Lediglich um eine ästhetische Betrachtung von Kunstwerken geht es in der Kritik weniger denn je. In einer Zeit, in der die Kunst oftmals politisch ist und aktives Handeln einfordert, kann die Kritik nicht dahinter zurückstehen. Die Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan spricht davon, wie politische Probleme heute auf die Kunst projiziert werden: »Der Bundeskanzler geht aus Protest nicht zur Documenta, verteilt aber kurz danach in Saudi-Arabien großzügig seinen Handschlag.« Dazu hätte es keine Kritik in deutschen Leitmedien gegeben, so Dhawan. Der mit rund neunzig internationalen Gästen personell und thematisch deutlich überfrachtete Kongress zeigte sich an vielen Stellen bemüht um eine notwendige Blickerweiterung in einer globalen Welt, in der die politische Zensur in zahlreichen Ländern ebenso Auswirkungen auf Kunstproduktion und Kunstkritik hat.  

Wie wenig handlungsfähig bisweilen die Kritik und damit wie realitätsfern Diskurse über ihre mögliche Krise letztlich sind, machten der Autor Danson Kahyana aus Uganda, die Künstlerin Sara Nabil aus Afghanistan und der Künstler und Kurator Barış Seyitvan aus der Türkei mit ihren bewegenden Berichten über Folter, Gewalt und Berufsverbot in ihren Heimatländern erschütternd sinnfällig.  

Nach sechs langen Konferenztagen blieben mehr Fragen als Antworten. Bei aller Kritik der Kritik, keine Spur von Zukunftsvision. Immerhin der Künstlerin Hito Steyerl fiel in ihrem Schlussplädoyer eine Antwort ein: »Wir sprechen über die Zukunft der Kritik, ohne die Zukunft zu denken«. Und mit einem Verweis auf die blinde Zerstörungswut der Klimaaktivisten als neue Form der Kritik und die rohen Fakten, die alles in einen neuen Rahmen setzen, ist ihr dystopisches Fazit: »Wir müssen uns auf eine Zukunft ohne Energie, ohne Internet, ohne Infrastruktur einstellen!« Und damit ohne Kritik?  

 

Text Anne Haun-Efremides 

 

Latest News
Hier können Sie das Museumsjournal abonnieren