Verlorenheit eines kleinen Landes

Harald Hauswald, Konzert von Big Country, Radrennbahn, Weißensee, Berlin, 1988.
© Harald Hauswald/OSTKREUZ/Bundesstiftung Aufarbeitung

Seine Kamera stand nie still. So erwehrte sich HARALD HAUSWALD aller Anfeindungen und schuf ein unvergleichliches Werk der Street Photography

Wie fühlt es sich wohl an, wenn man rund um die Uhr beobachtet wird, Stasischergen einem auf Schritt und Tritt folgen, die Kamera immer gezückt? Mir fehlt das Vorstellungsvermögen. Harald Hauswald (geb. 1954) aber ließ sich nicht beirren, wehrte sich und fotografierte zurück.

Die DDR-Staatssicherheit muss den Fotografiersüchtigen gefürchtet haben und gleichzeitig an ihm verzweifelt sein. Allein vierzig informelle Mitarbeiter waren auf »Radfahrer« alias Hauswaldangesetzt. Seine Stasi-Akte umfasst 1600 Seiten. Nachdem im Spätsommer 1987 sein Fotobuch »Berlin-Ost: Die andere Seite einer Stadt« in München herausgekommen war, holte die Stasi seine elfjährige Tochter von der Schule ab und steckte sie ins Heim. Das Fotobuch war auf Mielkes Schreibtisch gelandet. Es dauerte Monate, bis der alleinerziehende Vater das Mädchen wieder in seine Arme schließen konnte. Kann ein Geheimdienst seine Macht perfider ausleben, wenn er des eigentlichen »Staatsfeindes« nicht habhaft wird? Vermutlich hielt damals die Stephanus-Stiftung, ein diakonisches Dienstleistungsunternehmen, für das Hauswald seit 1981 arbeitete, schützend die Hand über ihn. Außerdem war die DDR sehr um internationale Anerkennung bemüht. In der Stasiakte findet sich ein Haftbefehl mit dem handschriftlichen Vermerk: »Aus politischen Gründen momentan nicht ratsam.« Das gemeinsam mit Lutz Rathenow veröffentlichte Buch machte Hauswald einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Zum 30. Jubiläum dieser Kultpublikation wurde übrigens in der Neuauflage 2017 »Die verschwundene Stadt« daraus.

 

Harald Hauswald, Kastanienallee, Prenzlauer Berg, Berlin, 1986.
© Harald Hauswald/OSTKREUZ/Bundesstiftung Aufarbeitung

Die Stasi ihrerseits entblödete sich seinerzeit nicht, einen Bericht zum Buch zu verfassen, jede einzelne Fotografie zu beschreiben und zu kommentieren. Was war so beachtenswert am Alltag, wie ihn alle erlebten, manche nur erduldeten? Unzählige Male ist die komplett sinnlose Tätigkeit weiter Teile des riesigen Stasi-Apparates beschrieben worden. Dennoch erstaunt es immer wieder, welche Ressourcen das Land derart verschwendete. Tagein, tagaus anderen beim Leben zuzuschauen und es minutiös zu dokumentieren – das erfordert Langmut und stachelte gelegentlich die Einbildungskraft an. So erklären sich erfundene Berichte über Beobachtungen oder Befragungen, bei denen nichts herausgekommen war.

Davon gänzlich unbeeindruckt war Hauswald mit seiner Kamera in Ost-Berlin unterwegs, seit er 1977 in die Hauptstadt der DDR gezogen war. Er fotografierte in Schwarz-Weiß, so konnte er die Bilder in der eigenen Dunkelkammer entwickeln. Es ist Straßenfotografie vom Feinsten, spontan, treffend, mitunter geradezu zärtlich. Dieses Genre sieht wegen des Rechts am eigenen Bild leider seinem Ende entgegen. In den 1980er-Jahren veröffentlichte Hauswald, als erster DDR-Fotograf und zunächst anonym, auch Farbfotografien in Magazinen wie »Geo«, »Stern« und »Zeitmagazin«. Befreundete West-Journalisten fungierten als Kuriere, die Honorarewaren willkommene Finanzmittel für Ausrüstungen und Filme.

 

Lottumstraße, Prenzlauer Berg, 1986, Berlin, DDR, Deutschland, Europa

Irgendwann verlor Hauswald selbst etwas den Überblick: Tüten voller Bilder und Negative, Straßenszenen, Alltagsbeobachtungen, Porträts der kleinen Leute mit Kindern, Hunden, Einkaufstaschen und auf Abschiedspartys vor der Ausreise ins gelobte Land. Eine Reihe von Arbeiten wurde konfisziert und ging unwiederbringlich verloren, zum Beispiel eine Serie über den Tanz, mit der sich Hauswald beim Verband Bildender Künstler der DDR um Aufnahme beworben hatte. Wegen der Staatssicherheit hatte er sein Werk nie archiviert.

Was nun veranlasste C/O Berlin, eine Retrospektive für Harald Hauswald auszurichten? 2016 stellte die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur 200.000 Euro für die Digitalisierung des Hauswald-Archivs zur Verfügung. Von den 230.000 Farb- und Schwarz-Weiß-Aufnahmen sichtete Kurator Felix Hoffmann gemeinsam mit Ute Mahler und Laura Benz circa 12.000 Negative, darunter viele noch nie gezeigte. Aus diesem Schatz konzipierten sie die Werkschau. Nach dreijähriger Vorbereitungszeit ist eine Ausstellung entstanden, die von der Verlorenheit eines kleinen Landes mit hochfliegenden Plänen zeugt und von Menschen erzählt, die unterwegs müde wurden, ihren eigenen Sinnen eher trauten als der Parteipropaganda, dem Sozialismus dennoch die Treue hielten, ihm abschworen oder ohnehin nie an ihn geglaubt hatten. Das größte Interesse Harald Hauswalds bestehe darin, so betont Hoffmann, rezipiert zu werden. Künstler und Kurator war es dabei extrem wichtig, die Arbeiten biografisch zu klammern. Die Schau beginnt mit der Stasigeschichte und entlässt den Besucher mit Hauswalds Lebenslauf. Hauswald begleitet den Fall der Mauer, dokumentiert die ersten Straßenschlachten, in der Mainzer Straße beispielsweise, und die immer dynamischere Hooligan-Szene. Wie beliebt der geniale Alltagsbeobachter ist – auch wehmütige Erinnerungen könnten eine Rolle spielen – zeigen die Verkaufszahlen des Buchs zur Ausstellung. Als die Schau vor dem erneuten Lockdown kurze vier Wochen lief, waren 1500 Exemplare binnen sechs Wochen ausverkauft, für ein Fotobuch ein eher unüblicher Absatz. Momentan wird die Zukunft der Printarchive der älteren Mitglieder der Agentur Ostkreuz diskutiert, zu denen Hauswald als Gründungsmitglied gehört. Derzeit liegen diese Schätze in der Agentur, doch wo werden sie in Zukunft verwahrt und für Forschung und Ausstellungen zur Verfügung gehalten?

 

Text – GABRIELE MIKETTA

Aus dem Museumsjournal 01/2022

»Harald Hauswald. Voll das Leben! Reloaded«
bis 21. April 2022
C/O Berlin

co-berlin.org

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