Was ist wirklich?
Der Körper steht im Zentrum: Mit der neuen Schau im Bunker entwirft die Sammlung Boros ein melancholisches Bild von Fragilität und Entfremdung
Alle dreißig Minuten ertönt eine Kirchenglocke. Sie markiert den Übergang in eine andere Sphäre, die sofort physisch spürbar wird, sobald die schwere Stahltür am Eingang ins Schloss fällt. Im Bunker wirkt die äußere Welt wie ausradiert, kein Geräusch, kein Tageslicht, keine Witterungdringen durch die meterdicken Betonwände. Die bis in die oberste Etage der Ausstellungsräumescheppernde Soundarbeit von Anne Imhof wurde nur zwei Tage vor Eröffnung der vierten Neupräsentation mit rund zwanzig Künstlern für die Sammlung Boros erworben.
Seit 2003 gehört dem Sammlerpaar Karen und Christian Boros der historische Luftschutzbunker in Berlin-Mitte. 2008 zeigten die beiden hier ihre erste Ausstellung. Tausendachthundert Tonnen Beton hatten sie zuvor heraussägen lassen, Geschosse durchbrochen, um auf den dreitausend Quadratmetern achtzig Räume zwischen zwei und zwanzig Meter Höhe zu schaffen. In diesem dystopischen Bauwerk muss sich die Kunst immer wieder behaupten. Die immanenten Spuren seiner wechselvollen Geschichte von der Zufluchtsstätte im Bombenhagel zumNachkriegsmilitärgefängnis, vom »Bananenbunker« zu DDR-Zeiten bis hin zum berüchtigten Techno- und Sexclub in den1990er-Jahren wirken wie ein Katalysator.
Was sind die latenten Erzählungen eines Ortes, was ist wirklich und was nicht? Alicja Kwade – seit Jahren eine Konstante in der Sammlung Boros – öffnet mit ihrem Werk den Blick auf ebenjene Phänomene, die sich der menschlichen Wahrnehmung entziehen. Gleich am Eingang hängengerahmte Ausdrucke ihres Genoms –Selbstbild, aber auch Porträt des Bauplans eines menschlichen Lebens. Der Körper als universelles Medium des kollektiven Unbewussten, seine Fragilität, nichtnur in Pandemie-Zeiten, sondern auch im Zusammenhang beschleunigter technologischerEntwicklungen, ist ein Grundmotiv, das den Ausstellungsrundgang mit leiser Melancholie durchzieht.
In mehreren Räumen stößt man auf die lebensgroßen, meist gesichtslosen weiblichen Puppen von Anna Uddenberg, die in akrobatisch verdrehten Rück-, Seit- und Vorbeugen sowie modisch zugerichtet durch technoide Schnürungen und hautenge Nickistoffe den Körper ausstellen und fetischisieren: ein wilder Mix aus pornografischem Kitzel und latenter Gewalt, der mittels Handykamera allein auf den imaginären männlichen Blick im virtuellen Raum hin ausgerichtet ist. Die hysterische Plakativität des von Uddenberg entworfenen Sex-Universums wirkt an diesem Ort besonders verzweifelt.
Künstlerische Visionen vom Körper scheinen in der Gegenwart radikal auf sich selbst bezogen, aber ebenso auf den unaufhörlichen Strom von Bildern, in den sie von Beginn an eingebettet sind. AuchBunny Rogers’ Avatare in einem ehemaligen Darkroom des Bunkers können als Reaktion auf mediale Frauenbilder gelesen werden, die den eigenen Körper immer wieder auf den Prüfstand stellen. Ihr Neopet als Amor nimmt ästhetisch Bezug auf die gleichnamige Website virtuellerHaustiere, die Rogers als ihren digitalen Zufluchtsort beschreibt, und trifft ins Schwarze: virtuelle Surrogate statt atmender Präsenz.
Das Ideal des intakten und schönen Körpers wird in der Realität vielfach nur durch Korrekturen erreicht. Die Orthesen der mexikanischen Künstlerin Berenice Olmedo sind in der Ausstellung mechanisch animiert, richten sich für einen Moment auf, um dann sofort wieder leblos in sich zusammenzufallen. Hier mutieren die technischen Geräte zu autonomen, fragilen Körpern und versinnbildlichen die bange Frage nach der zukünftigen Schnittstelle von Mensch und Maschine.
Yngve Holen – ebenfalls ein vertrauter Künstler der Sammlung – analysiert in seinen skulpturalen Arbeiten das Verhältnis zwischen Design und der Funktion von Objekten, zwischen Warenfetisch und tatsächlichem Wert. Die labyrinthischen Kubaturen des Bunkers erlauben nur wenige überraschende Durchblicke, die die klaustrophobische Atmosphäre kurzzeitig auflösen. So mutet Holens in luftiger Höhe angebrachtes, überdimensioniertes, hölzernes Abbild einer SUV-Felge wieeine gotische Fensterrose inmitten des hermetischen Betonklotzes an.
Schon in der vergangenen Präsentation setzten die Boros mit Michel Majerus und Uwe Henneken neben der in der Sammlung dominierenden Konzeptkunst einen Schwerpunkt auf figürliche Malerei. Nun widmen sie Wilhelm Sasnal gleich zwei Räume. Der polnische Maler rekrutiert seine Motive vornehmlich aus den Massenmedien und erschafft eine subjektive Dokumentation der Gegenwart, nicht ohne in seiner Faszination für die allgemeine Verfügbarkeit von Bildern auch seinUnbehagen demgegenüber zum Ausdruck zu bringen.
Eine Entdeckung des vergangenen Gallery Weekends ist der 1993 geborene New Yorker Maler Louis Fratino. In Fratinos Malerei, die das Farb- und Formenspektrum der Moderne rauf und runter dekliniert, spielt Erotik eine große Rolle. Aber eigentlich geht es vielmehr um die intime Darstellung eines Innenlebens, das sich in den männlichen Aktdarstellungen genauso spiegelt wie in den Interieurs und Landschaften.
Dass oft schon die kleinen Dinge große Wirkung haben, zeigt der belgische Konzeptkünstler Kris Martin mit seinem fortlaufenden Projekt »End-Points«, bei dem er den allerletzten Punkt aus Büchern, die für ihn von besonderer Bedeutung sind, herausschneidet und auf ein leeres Blatt Papier klebt. Die neue Ausstellung von Karen und Christian Boros macht einmal mehr sinnfällig, wie wichtig der öffentliche Zugang zu derart hochkarätigen Privatsammlungen gerade in einer Stadt wieBerlin ist, die sich zwar mit dem Label der weltweit höchsten Akkumulation von Künstlern schmückt, aber deren öffentliche Museen so gut wie keinen Ankaufsetat haben. Der Abzug zahlreicher Sammlungen wie von Erika Hoffmann, Thomas Olbricht oder Christian Flick aus der Stadt, spiegelt das Unvermögen hiesiger Kulturpolitik, ein solches Potenzial zu bewahren und zuunterstützen. »Das machen andere Städte besser«, meint Christian Boros und fügt mit einem Seitenhieb auf das zukünftigeMuseum des 20. Jahrhunderts hinzu: »Man muss nicht für eine halbe Milliarde Euro Paläste für Sammler bauen.«
Text Anne Haun-Efremides