Wir wollen Barrieren abbauen

Gülşah Stapel, Kuratorin für Outreach

Was verstehen Sie unter Outreach?

Outreach bedeutet meiner Auffassung nach, Verbindungen herzustellen. Ich beziehe dies sowohl auf eine historische wie auch menschliche Ebene. Mir geht es darum, mit den historisch-politischen Themen der Stiftung Berliner Mauer mehr unterschiedliche Menschen zu erreichen, umgekehrt aber auch neue Perspektiven und Themen in die inhaltliche Ausrichtung unserer Arbeit einzubeziehen. Um dies zu erreichen, werden innovative Formate, neue Formen der Ansprache und Zusammenarbeit und vor allem auch neue Themenschwerpunkte entwickelt.

Darüber hinaus betone ich bei meiner Arbeit die Verantwortung für gesellschaftspolitische Diskurse sowie Repräsentationen. Outreach sollte verstärkt dazu beitragen, identitäts- und ideologisch umkämpfte Themen zu entschärfen und Wege der Annäherung, des konstruktiven Streitens und des Verstehenwollens zu befördern. Inwiefern kann unsere Arbeit einerseits eine demokratische Überzeugung vermitteln, wenn andererseits hierzu eben auch die Fähigkeit zur Hinterfragung von Überzeugungen und Standpunkten gehört? Outreach sollte auch jenseits des Inhaltlichen eben diese gesellschaftspolitische Kompetenz im Blick behalten und Ambivalenz, Pluralität und Irritation als etwas gesellschaftlich Inhärentes erfahrbar machen. Letztendlich ist Outreach eine Querschnittsaufgabe, die Kulturinstitutionen nahbarer und menschlicher machen soll und damit insgesamt zu einer gesellschaftlichen Annäherung beiträgt, und zwar für möglichst alle.

Gülşah Stapel, Foto: privat

Welche konkreten Zielgruppen wollen Sie erreichen? Wen erreicht Outreach nicht? Wie niedrigschwellig muss, wie anspruchsvoll sollte Outreach sein?

Die Stiftung Berliner Mauer hat einen historisch-politischen Bildungsauftrag. Wir sollen mit unserer Arbeit auch zur Vermittlung von demokratischen Grundwerten beitragen.  Unsere Themen haben nationale Relevanz, und unsere Hauptzielgruppe sind deshalb sicherlich Schulgruppen. Die erreichen wir.

Dabei spielt eine Rolle, ob wir der Diversität dieser Schülerschaft und damit auch der Gesellschaft gerecht werden. Wir fragen uns, welche Verantwortung wir für die Entwicklung von Machtverhältnissen und Ausschlüssen in der Gesellschaft haben und wie wir diese Diskurse aktiv mitgestalten. Migrationshistorische Themen und der eskalierende Rassismus in den 1990er-Jahren zum Beispiel wurden in der Zeitgeschichte schlicht nicht thematisiert, die Aufarbeitungslogik, mit der wir Vermittlungsgrundsätze entwickelt haben, wird überwiegend kritisch beäugt. Es geht nicht nur darum, wen wir erreichen, sondern auch darum, Verantwortung für Diskurse zu übernehmen, weil wir eben viele unterschiedliche Menschen erreichen.

Außerhalb der Schülerschaft gibt es auch Zielgruppen, bei denen die kulturelle Teilhabe vom Abbau von Ausschlüssen abhängt. Dies bezieht sich auf den Abbau von physischen Barrieren, aber auch von sprachlichen und symbolischen. Gedenkstätten und Erinnerungsorte können sehr einschüchternd wirken. Sie werden oftmals in einem Status quo konserviert, haben eine dominante Ernsthaftigkeit und wirken dadurch schwer zugänglich. Diese Barrieren sollen abgebaut werden, um den Zugang zu erleichtern. Davon würden alle Zielgruppen profitieren.

Outreach nur für eine bestimmte Zielgruppe zu denken, ergibt meiner Meinung nach nur für Altersgruppen und soziale Milieus Sinn. Wichtiger ist es, achtsamer zu werden und bei der Entwicklung von Angeboten ganzheitlicher zu denken.

Ich möchte zudem, dass Neuankömmlinge in der Stadt die Möglichkeit bekommen, unsere Standorte niedrigschwellig zu besuchen und ein Gefühl für den historischen Kontext zu entwickeln. Je nach Zielgruppe schaue ich, was dafür notwendig ist: eine Führung auf Arabisch oder Farsi, ein niedrigschwelliger Rahmen für Begegnungen oder empowernde Ansätze zur Qualifizierung im Kontext einer Kulturinstitution. Wenn ich marginalisierte Perspektiven stark mache, mache ich das nicht nur für marginalisierte Gruppen, sondern für alle.

 

Was sind die größten Herausforderungen für Outreach?

Outreach ist kein klar umrissenes Feld. Die Inhalte folgen keinen etablierten Strukturen. So tauchen viele meiner Tätigkeiten zum Beispiel bei internen Erfolgskontrollen und statistischen Erfassungen nicht auf. Wir leben immer noch in einem sehr konservativen System, bei dem nur das, was klar beziffert werden kann, Gewicht bekommt.

Da ich versuche, in viele Abteilungen hineinzuwirken und etwas an der Grundhaltung zu verändern, stoße ich hier und da auf Abwehrhaltung und Misstrauen. Ich muss daher viel Zeit in den Aufbau von Vertrauensverhältnissen investieren und manchmal um meine Position kämpfen. Das bedeutet auch, dass ich mir Mitspracherechte nehme und nicht zu viel um Erlaubnis bitte. Wer Outreach macht, muss hartnäckig und kommunikativ sein. Wer schüchtern und leise ist und Anerkennung als Motor braucht, ist beim Outreach fehl am Platz.

 

Mit welchen Projekten haben Sie den größten Erfolg? Was muss sich in den Museumsstrukturen ändern, um diese Erfolge zu verstetigen?

Ich finde es schwer, Erfolg zu definieren. Für mich ist das ein sehr subjektiver Zustand von Zufriedenheit, gemessen an dem Output für ein bestimmtes Input.

Ich empfinde das wöchentliche Sprachcafé mit deutschsprachigen ehrenamtlichen Menschen aus der Nachbarschaft und Bewohnern (m/w/d) aus dem Übergangswohnheim für geflüchtete Menschen derzeit als größten Erfolg. Dank dessen entsteht an den Freitagen schon eine ganz andere Atmosphäre im Museum. Zudem werde ich stärker für die Belange und Themen unserer Nachbarschaft sensibilisiert, die wiederum die Scheu, unser Museum zu betreten, verliert und dies auch weitergibt. Fast jede Woche bringt jemand jemanden neues mit. Dank des Sprachcafés kam ich auf die Idee für das Format »Neu hier?!«, das ist ein sehr niedrigschwelliges Führungskonzept, das den neu Zugezogenen das Museum in der Muttersprache erschließt.

Museen ziehen, um ihre Daseinsberechtigung zu verteidigen, oft Grenzen. Museen seien kein Ort für soziale Arbeit – das höre ich oft. Dabei hängt es ganz vom Museum ab, ob sich Aspekte der sozialen Arbeit mit den Inhalten des Museums verknüpfen lassen. Diese abgrenzende Haltung ist strukturell: hier das Museum und dort die anderen. Das bezieht sich sowohl auf das Verhältnis zu freien Mitarbeitern als auch auf Besucher (m/w/d). Würden Museen ihre Räume auch für weniger »elitäre« Ansprüche öffnen, könnten sie sehr viel von Menschen lernen, die einen Bedarf an (Begegnungs-)Räumen haben. Dabei geht es nicht nur um das Lernen aus Kooperationen und anderen Perspektiven, sondern auch um das Lernen aus Situationen, in denen etwas schief geht oder wo »Fehler« passieren. Das sind wertvolle Momente für Museen. Ich bin froh, dass ich in meinem Arbeitsumfeld die Freiheiten bekomme, diese Grenzen aufzuweichen und Kolleginnen und Kollegen diesbezüglich bereits eine neue Haltung entwickeln. Das empfinde ich tatsächlich als erfolgreich, aber nicht als »meinen« Erfolg.

 

Lassen sich bereits Effekte in Richtung einer diverseren, die Gesellschaft klarer widerspiegelnden Besucherschaft feststellen?

Das kann ich nicht wirklich beantworten. Wenn ich ein klares Bild der Gesellschaft hätte und wir nicht in einer Pandemie stecken würden, könnte ich diese Frage vielleicht beantworten, aber vermutlich auch dann nicht. Zumindest ist eine Zunahme an mehrsprachigen und geflüchteten Menschen zu spüren, die zu uns kommen.

 

Gülşah Stapel, Kuratorin Outreach

Historisch-politische Bildung

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