»Wir ziehen keine Grenzen!« 

Kulturelle Verflechtungen zeigten auch die Europäischen Kulturtage Schottland im MEK: Protest gegen den Krieg in der Ukraine am 12. März 2022 auf dem George Square in Glasgow.
© Jeremy Sutton-Hibbert
Das Museum Europäischer Kulturen scheut sich nicht, immer wieder politische Fragen zu stellen. Für Elisabeth Tietmeyer und Jana Wittenzellner gibt es eine Antwort: Haltung zeigen

Im Winkel. Der Straßenname passt. Gut versteckt zwischen dem Geheimen Staatsarchiv, wo die Akten der preußischen Bürokratie lagern, dem Friedrich-Meinecke-Institut, wo die Freie Universität ihre Historiker ausbildet, und einer neugebauten Townhouse-Siedlung treffen wir Elisabeth Tietmeyer und Jana Wittenzellner im Direktionsbüro, dessen holzfurnierte Oberschränke nur mit einer Leiter zu erreichen sind. Aber die beiden Leiterinnen des Museums Europäischer Kulturen (MEK) bleiben sowieso lieber mit den Füßen auf dem Boden, in Berlin-Dahlem, mitten in Europa und darüber hinaus. 

 

 

Elisabeth Tietmeyer – Das Museum Europäischer Kulturen (MEK) ging 1999 aus der Zusammenlegung der europäischen Sammlung des heutigen Ethnologischen Museums mit den Beständen des Museums für deutsche Volkskunde aus Ost- und West-Berlin hervor. Elisabeth Tietmeyer kennt die Institutionen in leitender Funktion seit dreißig Jahren. Seit 2013 ist die Ethnologin Direktorin des MEK. Jana Wittenzellner – Die Kulturwissenschaftlerin mit dem Forschungsschwerpunkt Geschlechter- und Sexualitätengeschichte kam 2017 ans Museum Europäischer Kulturen. Sie arbeitete unter anderem als Kuratorin für Netzwerk und Community. Seit 2022 ist Jana Wittenzellner stellvertretende MEK-Direktorin.
Foto: Christian Krug

Das Humboldt Forum postuliert, die Welt in die Mitte der Stadt zu holen. Anders als das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst ist das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem geblieben. Führt Europa in Berlin ein Schattendasein? 

Elisabeth Tietmeyer Nein. Wir sind im Gegenteil viel sichtbarer geworden. Früher hielt man das MEK immer für eine Abteilung des Ethnologischen Museums. Als die Idee aufkam, das Schloss als Humboldt Forum zu nutzen und das Ethnologische Museum und das Museum für Asiatische Kunst dort zu verorten, haben wir uns natürlich gefragt, warum unser Museum nicht dabei sein sollte. Denn für uns war immer klar: Eine Trennung in Europa und Außereuropa ist eurozentrisch, und genau das war ja gerade von den Initiatoren nicht beabsichtigt. Für uns war die Entscheidung in wissenschaftlicher Hinsicht ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert und entsprach nicht der Realität. Aber diese Ansicht war für die politische Ebene damals nicht relevant. Wir haben uns dann intensiv auf unsere Arbeit in Dahlem konzentriert und mit unseren neuen wissenschaftlichen und methodischen Ansätzen ein großes Stammpublikum gewinnen können. Viele Veranstaltungen, die wir hier anbieten, wären so im Humboldt Forum gar nicht möglich.

Jana Wittenzellner Man kann das Humboldt Forum auch nicht isoliert betrachten, sondern muss es zusammen mit den anderen Häusern auf der Museumsinsel sehen. Deren musealer Gesamtzusammenhang beruht auf dem Gedanken »Wir und die anderen«. Wenn das MEK mit ins Humboldt Forum gezogen wäre, wäre das genauso erhalten geblieben. Jetzt können wir dieses Denken an unserem Standort in Dahlem durchbrechen.

Ist ein Museum für europäische Kulturen nicht zwangsläufig eurozentrisch? Bräuchte es den kuratorischen Blick von außen auf Europa? 

Tietmeyer Zunächst muss man allgemein festhalten, dass jeder Mensch ethnozentrisch ist. Wir schließen von uns auf andere. Aber deshalb sollte man nicht im Umkehrschluss glauben, dass jetzt außereuropäische Kuratoren ihren Blick auf Europa darstellen müssten.

Warum nicht? 

Tietmeyer Weil das auch nur selbstreferenziell wäre – dies würden wir vielleicht spannend finden, aber wäre das für unsere Kollegen außerhalb Europas ebenfalls interessant? Bei meinen Forschungen und Besuchen in Afrika habe ich kein Museum gesehen, in dem »Europa« ein Thema gewesen wäre. Im MEK fördern wir lieber den globalen Austausch und schaffen Netzwerke. Zurzeit etwa haben wir eine Kollegin vom Botswana National Museum in Gaborone zu Gast. Sie setzt sich mit unseren Ausstellungen und dem Depotbestand auseinander, lässt sich von uns erklären, wie wir unsere Datenbank organisieren und welche Sammlungskonzeption wir verfolgen. Sie reflektiert und kommentiert unsere Arbeit, stellt ihre Ideen vor und diskutiert sie mit uns. Das schärft unseren Blick – auch auf Europa. Wir erwarten aber nicht, dass sie »Europa« ausstellt. Das machen wir ja auch nicht.

Wittenzellner Wir heißen auch nicht Museum »für« europäische Kulturen. Es wäre Hybris zu glauben, man könne in einem einzelnen Museum »die« europäischen Kulturen ausstellen. Wir können Objekte, die aus unterschiedlichen europäischen Kulturen stammen, in Zusammenhänge bringen. Wir zeigen, wo sich Menschen voneinander abgrenzen und wo sich Verflechtungen finden. Dass das nicht deckungsgleich mit europäischen Grenzen ist, ist völlig klar. Das sieht man an den Objekten selbst: Sie gehörten teils zu Ländern oder Regionen, die es längst nicht mehr gibt. In Europa haben sich politische und ideelle Grenzziehungen ununterbrochen verschoben.

MEK-Format Bewegungsmelder: Die Vitrine »#WeStandWithUkraine« wurde anlässlich des Kriegsbeginns eingerichtet. Foto: Christian Krug

Wie definieren Sie Europa? 

Tietmeyer/Wittenzellner (unisono): Gar nicht!

Wittenzellner Wir ziehen keine Grenzen.

Tietmeyer Wo sollte man auch Grenzen ziehen, wenn es in und mit Europa so viele kulturelle Verflechtungen gibt, sei es durch den globalen Handel oder Migration, sei es durch Missionierung oder durch Reisen? Wo fängt Europa an, wo hört es auf?

Man könnte Europa geografisch, politisch, kulturell oder emotional definieren. Reflektieren das nicht auch viele Objekte Ihrer Sammlung? 

Wittenzellner Wir arbeiten unter anderem mit Objekten aus dem Museum für Deutsche Volkskunde und der europäischen Abteilung des Museums für Völkerkunde, des heutigen Ethnologischen Museums. Aus der Verbindung dieser zwei Institutionen entstand 1999 das MEK. Viele dieser Objekte wurden im 19. Jahrhundert gesammelt. Damals ging es um Aspekte des Lebensalltags der unteren und mittleren sozialen Schichten. Es ist ein Sammelsurium von Objekten, mit denen man aus heutiger Sicht nicht unbedingt etwas anfangen kann. Daraus lässt sich keine gültige Europa-Definition ableiten. Deshalb wird bei uns auch niemand aus einer Ausstellung kommen und eine Antwort auf die Frage haben: Was ist Europa?

Was wäre Europa ohne den Eurovision Song Contest? Gerhard Goders Skulptur von Conchita Wurst, 2014. Foto: Ute Franz-Scarciglia

Erwarten Ihre Besucher nicht, dass ihnen europäische Kulturen gezeigt, erklärt und definiert werden? 

Tietmeyer Der Begriff »Kulturen« wird immer noch mit »Ethnien« oder »Völker« gleichgesetzt. Das ist problematisch. Kultur als Lebenswelt ist dynamisch, sie hat grundsätzlich prozesshaften Charakter. Der Begriff selbst muss vielfältig definiert werden, denn es gibt ganz unterschiedliche Formen von Kultur. Darum trägt der Titel unseres Museums den Plural von Kultur. Wenn die Leute glauben, dass sie im MEK zum Beispiel Wahrheiten über »die« Italiener, »die« Ungarn oder »die« Polen erfahren – wenn sie eine »Völkerkunde Europas« erwarten –, dann werden sie enttäuscht. Das können und wollen wir nicht.

Was erfahren sie im MEK? 

Tietmeyer Wir thematisieren vergleichend Formen und Folgen kultureller Verflechtungen. Damit zeigen wir, wo es Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Europa und darüber hinaus gibt. So gehen wir zum Bespiel anhand verschiedener Krippen aus Europa, Afrika und Lateinamerika auf die Folgen christlicher Missionierung in der Welt ein. Aber wir präsentieren nicht nur Kulturkontakte, wir praktizieren sie auch: Dafür haben wir die Reihe der Europäischen Kulturtage entwickelt, bei denen jedes Jahr eine andere Region oder Stadt im Fokus steht. Mit einer Ausstellung und Veranstaltungen bringen wir den Menschen Land und Leute näher. Das geschieht partizipativ mit Experten, die sich mit den jeweiligen Kulturen auskennen.

Wittenzellner Kulturelle Gemeinschaften sind kleinteilig. Kulturelle Ausdrucksweisen halten sich nicht an nationalstaatliche Grenzen.

Tietmeyer Wir bewahren zum Beispiel eine große sámische Sammlung, deren Provenienzen wir erforschen werden, natürlich mit Vertretern der Sámen aus den entsprechenden nordeuropäischen Ländern. Die Sámen sind die einzige indigene Bevölkerungsgruppe in Europa. Wir verfügen auch über eine außergewöhnliche Sammlung zu den Krimtataren von der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer oder über eine große Textilsammlung, mit vielen Objekten aus Tschechien und der Slowakei. Wie viele andere Museumssammlungen ist auch ein Großteil der Sammlung des MEK subjektiv geprägt – das heißt, in der Vergangenheit bestimmten die Kuratoren, was sie für sammlungswürdig hielten und was nicht. Es gab kein Sammlungskonzept. Überdies wurde besonders in früherer Zeit positivistisch ausgestellt. Das machen wir schon lange nicht mehr.

Wie stellen Sie stattdessen aus, auch im Vergleich mit anderen ethnologischen Museen? 

Tietmeyer Ethnologische Museen beschäftigen sich vor allem mit indigenen Kulturen einer Gesellschaft, weniger mit der Gesellschaft an sich. Das MEK ist eher kulturanthropologisch und kulturhistorisch ausgerichtet. Wir orientieren uns an aktuellen gesellschaftlichen Themen und sammeln Objekte der Gegenwart, die wir kulturhistorisch kontextualisieren. So hatten wir in den letzten Jahren zum Beispiel eine Ausstellung zu Fast Fashion und Slow Fashion. Darüber hinaus wollen wir damit künftigen Generationen zeigen, wie wir gelebt haben und was wir in unserer Gesellschaft wichtig fanden.

Wittenzellner Wir haben als work-in-progress ein Sammlungskonzept erarbeitet und vorläufig drei thematische Schwerpunkte festgelegt. Erstens »Natur und Kultur«: Wie geht man im Rahmen seiner Kultur mit der Natur um? Zweitens »Identität«, dabei geht es um Prozesse der Identitätsbildung, also auch um sexuelle Vielfalt, gesellschaftliche Diversität. Drittens »globale Verflechtungen«: Wie kommen Dinge oder Menschen aus Europa in den Rest der Welt? Was wird als europäisch wahrgenommen? Was adaptieren wir aus anderen Teilen der Welt?

Geben Sie mit den historischen Objekten in Ihrer Sammlung Antworten auf aktuelle Fragen?  

Tietmeyer Oft erwarten Besucher, im Museum Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Ich bin aber überzeugt, dass wir weniger Antworten geben als Fragen stellen und debattieren müssen.

Viele Menschen erleben Europa wieder als Krisenkontinent und sind verunsichert. Kann ein Museum ein hilfreicher Partner sein? 

Tietmeyer Wir versuchen, auf aktuelle Situationen einzugehen, indem wir Sammlungsobjekte entsprechend kontextualisieren. Als die Krim 2014 von Russland annektiert wurde, haben wir ein Ausstellungsformat mit dem Titel »Bewegungsmelder« entwickelt. Wir fühlten uns als öffentliche Institution dazu verpflichtet, auf diese Situation zu reagieren. Vor allem, weil die Krimtataren mehr als andere auf der Krim unter dieser Situation gelitten haben und dies heute noch tun. So haben wir in einer Vitrine darauf und auch auf das vergangene Schicksal der ethnischen Minderheit aufmerksam gemacht, wobei wir einige Objekte aus unserer Sammlung zeigten. Je nach aktuellen Vorkommnissen aktivieren wir den »Bewegungsmelder« – so auch nach Kriegsausbruch vor über einem halben Jahr. Wir gingen auf den Krieg ein und stellten die Ukraine mit aussagekräftigen Objekten aus unserer Sammlung als Land historisch vielfältiger Kulturen vor. Für eine schnelle Reaktion auf aktuelle kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse ist dieses Format sehr gut geeignet. Eine große Ausstellung »So ist die Ukraine« wollten und konnten wir nicht organisieren.

Wittenzellner Das wäre auch viel zu ethnisch gedacht …

Tietmeyer … und zu national, genau diese Herangehensweisen wollten wir mit der Gründung des MEK 1999 überwinden.

In der ständigen Sammlungspräsentation »Kulturkontakte. Leben in Europa«. Foto: Ute Franz-Scarciglia

Welche Art Museum wollen Sie für Ihr Publikum sein? 

Wittenzellner Das Museum ist ein guter Lernort. Es muss gesellschaftlich relevant sein, aber auch ein Ort, an dem man unterhalten wird. Es ist nicht die Aufgabe eines Museums, tagesaktuell zu reagieren. Mit unserem Alltagsbezug können wir aber Themen verhandeln, die die Menschen gegenwärtig bewegen und die Auswirkungen auf ihr Leben haben.

Tietmeyer Uns ist wichtig, das MEK als einen »dritten« Ort anzubieten, an dem man sich sicher fühlt und an dem offen diskutiert werden kann. Wir versuchen, mit unseren Möglichkeiten auf wichtige Themen und Lebensrealitäten unserer Zeit zu reagieren. So setzten wir zum Beispiel 2016 in der sogenannten Flüchtlingskrise eine große partizipative Ausstellung mit Geflüchteten um. Mit der Ausstellung »1000 Tücher gegen das Vergessen« haben wir 25 Jahre nach ihrem Ausbruch an die Jugoslawienkriege erinnert. Als sich diese Themen häuften, haben allerdings einige Besucher gefragt, ob wir nun nur noch solche schwierigen Themen aufgreifen würden.

Inwieweit gehen Sie darauf ein? 

Tietmeyer Wichtig ist für uns, dass sich die Menschen im MEK wohlfühlen – dies ist sehr subjektiv, darum bieten wir unterschiedliche Themen und Formate an. Dazu zählen auch Ausstellungen, bei denen das Anfassen, ästhetischer Genuss und Leichtigkeit im Vordergrund stehen, aktuell zum Beispiel »All Hands On: Flechten«. Wir wollen für alle da sein. Gerade jetzt, wo in der Ukraine Krieg herrscht, wird deutlich, wie wichtig das ist. Häuser und Museen dort sind zerstört. Viele der geflüchteten Ukrainer, die unseren »Bewegungsmelder« oder die Fotoausstellung der ukrainischen Künstlerin Mila Teshaieva gesehen haben, waren froh, dass es in Berlin ein Museum gibt, das ihnen einen Zugang zu ihrer Kultur ermöglicht und auf ihr Schicksal hinweist. #WeStandWithUkraine: Das ist für mich eine Frage der Haltung.

Wittenzellner Immer wenn Museen zerstört werden, wird Erinnerung zerstört. Deshalb müssen wir als Institution – und Museen sind mächtige Institutionen – handeln, sichtbar sein, unsere Objekte zugänglich machen und immer wieder in aktuelle Kontexte setzen.

 

Interview Nadja Mahler und Marcus Woeller

 

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