Extremfilmer

Er hungert mit seinem Hauptdarsteller, nimmt Tuchfühlung mit Grizzlys auf oder hypnotisiert Hühner. Für seine Filme geht Werner Herzog stets aufs Ganze

Eine apokalyptische Szenerie: Rauchschwaden ziehen am Himmel, die Erde bebt. In ungeheuren Eruptionen brechen sich Lavaströme Bahn, kriechen wie gewaltige Lindwürmer ins Tal. Eisschollen brechen auf. Wasserfälle stürzen herab. Quallen schweben wie schwerelos in der Tiefsee. Wir sehen undurchdringliche Dschungel, endlose Wüsten. Werner Herzog zeigt in seinen Filmen die Fragilität einer zu bewahrenden Schöpfung ebenso wie ihre zerstörerische Kraft. Er feiert Landschaften von paradiesischer Schönheit in, wie er es nennt, »ungesehenen Bildern« und setzt ihnen Aufnahmen von Gewalt, Zerstörung und Tod entgegen. Herzog, der angibt, selbst nicht zu träumen, visualisiert Träume und Sehnsüchte, zeigt innere Landschaften, Seelenbilder. Eine 3-Kanal-Videoinstallation lässt das Publikum in diese Welten eintauchen, die über die Leinwand hinauszuwachsen scheinen und oft von klassischer Musik untermalt sind.

 

Nah am Abgrund: Der Forscher Clive Oppenheimer reiste mit Werner Herzog für »Into the Inferno« (2016) zu den legendärsten Vulkanen. Am Rande eines Kraters entstand das Porträt.
© Clive Oppenheimer

Die Natur, das hat der Regisseur immer betont, ist dem Menschen gegenüber gleichgültig. Wir können sie betrachten, uns an ihr abarbeiten, aber sie nie wirklich bezwingen. Daher liebt Herzog die Kreisform, die sich als Kamerafahrt und Schwenk in vielen seiner Filme findet. Er inszeniert Zyklen, auf die Zerstörung folgt die Wiederauferstehung. Das wird besonders in seiner sogenannten Schöpfungstrilogie deutlich, bestehend aus der surrealen »Fata Morgana« (1971), den requiemartigen »Lektionen in Finsternis« (1992) und dem bisweilen skurril anmutenden »The Wild Blue Yonder« (2005). Wie aus der Perspektive von Außerirdischen blickt Herzog auf unseren Planeten, staunend und trauernd zugleich.Die Spuren, die der Mensch hinterlässt, erhalten bei ihm eine kosmische Dimension. Eine »Wunderkammer« präsentiert in der Ausstellung Requisiten des Szenenbildners Henning von Gierke – wie stumme Zeugen menschlicher Kulturleistungen, auch als Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Ein Palmenblatt aus dem Dach von Fitzcarraldos Haus, der Pflock, mit dem Nosferatu gepfählt wurde, das Essbesteck, das Kaspar Hauser zum Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft dressierte … Fake oder Wahrheit? Bei Herzog geht es um eine sogenannte ekstatische Wahrheit, die nicht an Fakten gebunden ist.

Werner Herzog bei den Dreharbeiten zu »Fitzcarraldo«, 1982.
© Werner Herzog Film / Deutsche Kinemathek

Dabei stellt er die Frage, was uns zum Menschen macht. Zivilisiert oder deformiert uns die menschliche Gemeinschaft? Sind es Mut, Kraft, Neugier, Widerständigkeit oder Pflichtgefühl – oder ist es vielmehr die Suche nach Gemeinschaft, die uns auszeichnet? Herzog ist in seiner Zusammenarbeit mit Klaus Kinski vorgeworfen worden, er erzähle immer wieder dieselbe Heldengeschichte voller Heroismus und Hybris (»Aguirre«, 1972, »Fitzcarraldo«, 1982, »Cobra Verde«, 1987). Doch die Ausstellung zeigt auch Herzogs einfühlsame Porträts, wie »Land des Schweigens und der Dunkelheit« (1971) über die taubblinde Fini Straubinger, die sich um andere Menschen mit Handicap kümmert, oder den Spielfilm »Stroszek« (1977) mit dem Berliner Straßenmusiker Bruno S., der mit zwei Weggefährten in Amerika sein Glück sucht und dabei große Hoffnung und tiefe Aussichtslosigkeit durchlebt. In seinen Dokumentarfilmen begegnet der Regisseur seinen Protagonisten mit großer Neugier, er lässt Insassen von Todeszellen über das Leben nach dem Tod reflektieren (»On Death Row«) oder befragt Hirnforscherinnen und Neurologen in »Theatre of Thought« (2022) zu menschlichen Wahrnehmungen. Wie gehen wir mit Schuld um? Wie inszenieren wir unser Leben? Bei Herzog geht es um die großen Fragen. Er lotet die Grenzgebiete zwischen Wildnis und Zivilisation aus, um so etwas über die Conditio humana zu erfahren.

Doch Werner Herzog ist nicht unumstritten. Er fordert sein Publikum immer wieder heraus, er polarisiert. Seine Karriere ist begleitet von kontroversen Debatten, bei denen die Meinungen weit auseinandergehen. Die Diskussionen betreffen Inhalt und Ästhetik seiner Filme, aber auch deren Entstehungsbedingungen. Wie viel Manipulation ist im Dokumentarfilm erlaubt? Kann eine Inszenierung tatsächlich »wahrer« sein als eine Dokumentation? Um welche Wirkung geht es Werner Herzog in seinen Filmen – um Schock, Aufklärung oder die Möglichkeit zur Trauer? Welche Rolle spielen die Machtverhältnisse zwischen Einheimischen und Filmteam bei Dreharbeiten außerhalb Europas? Ist dort ein Miteinander auf Augenhöhe überhaupt möglich? Zu fünf Fragestellungen haben wir Personen aus verschiedenen Berufsgruppen, Generationen und Kulturen um Stellungnahmen gebeten. Wie wurden Herzogs Filme bei der Premiere wahrgenommen, wie erleben wir sie heute? Wie können wir die Herausforderungen und Diskurse, die sich aus ihnen ergeben, produktiv machen? Verschiedene Sichtweisen auf das Werk werden deutlich, beleuchten Herzog als Person und als Medienphänomen.

In der Öffentlichkeit wird Herzog vielfach wahrgenommen als einer, der auszog, ein Schiff über den Berg zu ziehen, der im Angesicht von Vulkanausbrüchen oder Grizzlybären nicht die Fassung verliert, der, selbst als er vor laufender Kamera bei einem Interview angeschossen wird, noch die Ruhe bewahrt. Abenteurer oder Forscher? Herzog hat die erste Zuschreibung immer abgelehnt. Er würde nur mit kalkulierten Risiken arbeiten, und das stets professionell. Die Schauspielerin Nicole Kidman sagt im Dokumentarfilm »Radical Dreamer«, der im Oktober in die Kinos kommt: Nach den Erfahrungen bei »Queen of the Desert« (2015) in der Sahara würde sie mit Herzog überall drehen, er habe ihr jede Angst genommen. Als Christian Bale für seine Rolle in »Rescue Dawn« (2006) unter ärztlicher Aufsicht 65 Kilogramm abnahm, fastete Herzog in dieser Zeit aus Solidarität mit. »Film muss physisch sein«, ist sein Credo, und tatsächlich zeigen ihn viele Werkfotos beim körperlichen Einsatz. Er spielt Szenen vor, ist am Set sehr präsent.

Der Comiczeichner Reinhard Kleist hat die großen Herzog-Mythen für uns in Bilder gefasst und hinterfragt diese zugleich: Herzog und Kinski – wer hält wen im Würgegriff und profitiert von der medialen Resonanz am meisten? Herzog und der Grizzlybär: Welcher Gefahr setzte sich Herzog aus? Herzog als Hypnotiseur, als Mann, der nach verlorener Wette vor Publikum seinen Schuh isst. Mythen und Legenden formen Herzogs Persona. Bei der jungen Generation hat er durch seine unangepasste Haltung längst Kultstatus erlangt. Von keinem anderen Regisseur existieren so viele Persiflagen in den sozialen Medien, er trat bei den »Simpsons« auf, Joko und Klaas haben ihn imitiert. Was soll da noch kommen?

Über siebzig Spiel- und Dokumentarfilme hat Werner Herzog in den letzten 55 Jahren gedreht. Er kann sicher als einer der einflussreichsten deutschen Regisseure seiner Generation betrachtet werden. Er könnte sich also zurücklehnen, doch Herzog ist nach wie vor produktiv. In diesem Jahr erscheinen zwei neue Filme, »Theatre of Thought« und »Fire Within«, die im Oktober im Rahmen der Ausstellung aufgeführt werden, er ist als Schauspieler zu erleben – zuletzt sorgte seine Rolle als Schurke in der Star-Wars-Serie »The Mandalorian« (2019–20) für Aufregung – und Herzog tritt zunehmend auch als Autor in Erscheinung. Schon früh schrieb er Gedichte und seine »Filmerzählungen«. Es folgten Tagebücher wie »Vom Gehen im Eis« (1978) oder »Die Eroberung des Nutzlosen« (2004). Im letzten Jahr veröffentlichte Herzog seinen ersten Roman »Vom Dämmern der Welt«, nun folgen seine Lebenserinnerungen »Jeder für sich und Gott gegen alle«. Die Ausstellung stellt außerdem den Leser Herzog vor, der über »Pu der Bär« genauso ins Schwärmen gerät wie über die neueste Übersetzung von Flaubert. Und sie zeigt Herzog als Lehrenden, der seine eigene Rogue Film School gegründet hat sowie regelmäßig Workshops gibt. Die Oscar-Preisträgerin Chloë Zhao und der Regisseur Joshua Oppenheimer berichten, wie Herzog sie unterstützt und inspiriert hat. Sein Werk bleibt weiterhin Herausforderung und Ansporn zugleich. Die Ausstellung, die erstmals umfassend das Werner-Herzog-Archiv der Deutschen Kinemathek auswertet, wird von einem zweisprachigen Audioguide (App) begleitet, in dem Herzog sowie seine wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu Wort kommen. Der viersprachige Katalog enthält ein umfangreiches Interview, über hundert exklusive Fotos, die Comiczeichnungen von Reinhard Kleist, Faksimiles ausgewählter Exponate sowie ein »Herzog-ABC« zu allen Fragen über Leben und Werk.

Text Kristina Jaspers, Kuratorin der Ausstellung.

 

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