Sie schrieben am Buch der Geschichte 

Carmen Láffon La sal. Salinas de Bonanza, Sanlúcar de Barrameda, 2017–19Oil, tempera, and charcoal on wood / Öl, Tempera und Holzkohle auf Holz / Óleo, tempera y carbón sobre madera153 × 280 cm© VG Bild-Kunst, Bonn 2022; de las fotografías | all photographs: Archivo Helga de Alvear | Joaquín Cortés
Beim gesellschaftlichen Wandel Spaniens nach der Militärdiktatur übernahmen FRAUEN eine Hauptrolle. Wie sich das in der Kunst widerspiegelt 

Schon als ich eingeladen wurde, diese Ausstellung zu kuratieren, stand fest, dass damit eine besondere Aufgabe verbunden war: Es sollte eine Präsentation spanischer Künstlerinnen sein. Auch wenn Frauen in der Kunstgeschichte seit den 1970er-Jahren eine sehr wichtige Rolle gespielt haben, stellte sich zunächst die Frage, ob eine geschlechtsspezifische Auswahl im Jahr 2022 wirklich noch notwendig sei – eine Frage, die ich gerne auch an das Publikum richten möchte. 

Der Titel »Schreibt all ihre Namen« ist inspiriert von einem Werk von Dora García, »100 obras de arte imposibles« (100 Werke unmöglicher Kunst) von 2001. Es besteht aus einer Auflistung von einhundert Sätzen, die auf die Akzeptanz des Scheiterns, auf die Unmöglichkeit, etwas zu verwirklichen, verweisen: »Die Träume anderer träumen«, »Das Leben anderer leben«, »Mit jedem menschlichen Wesen zusammen sein, auch wenn es nur für eine Sekunde ist« sind einige dieser nicht realisierbaren Vorschläge. »Schreibt all ihre Namen« suggeriert eine poetische Handlung, aber auch poetische Handlungsfähigkeit. Die Künstlerinnen aus Spanien und Lateinamerika stellen ihre unterschiedlichen Denkweisen, ihre subjektiven Wahrnehmungen und Lebensweisen vor. 

Die meisten der ausgewählten Werke haben auch einen Bezug zur Schrift und zum Schreiben. Sehr unterschiedliche Schreibformen lassen sich entdecken: performatives und erzählendes Schreiben, die Notation von Musik oder Partituren, das Umschreiben der Kunstgeschichte oder eine persönliche Interpretation der Literatur anderer. Das muss nicht ausschließlich Handgeschriebenes sein. Sprachen sind mit Poesie, Linguistik, Mathematik, Musik, Philosophie, Natur und Sexualität verbunden: ein roter Faden, der sich durch das Schaffen und die gezeigten Werke der fünfzehn Künstlerinnen aus drei Generationen zieht. Unabhängig davon, ob sie sich als Feministinnen verstehen, vermitteln sie uns andere Sicht- und Lebensweisen. Durch diese subjektiven Aneignungen können wir die Welt begreifen und uns ein Bild von ihr machen.   

 

Eva LootzElla vive en el traje que se está haciendo, 1994Gelatin-silver bromide photography on paper / Gelatine-Silberbromid-Fotografie auf Papier / Fotografía al gelatinobromuro de plata sobre papel61 × 48 cmEdition / Auflage / Edición 2/5© VG Bild-Kunst, Bonn 2022; de las fotografías | all photographs: Archivo Helga de Alvear | Joaquín Cortés

Im ersten Teil der Ausstellung zeigen Elena Asins und Esther Ferrer, deren künstlerische Anfänge in den 1960er-Jahren liegen, wie sie Themen der Linguistik, Mathematik, Philosophie und Musik in ihren Arbeiten umsetzen. Als alternative Formen von Verschriftlichung können die verschlungenen Knoten der Textilskulpturen von Aurèlia Muñoz oder die surrealistischen Arbeiten von Eva Lootz verstanden werden. Vera Chaves Barcellos, Sarah Grilo und Soledad Sevilla entführen uns auf die Straße. Der öffentliche Raum und seine Mauern werden als Erinnerung an eine Stadt, als Ausdruck der Bewohner*innen oder als Schauplatz literarischer Erzählungen gezeigt. 

Sarah GriloAmerica Has Changed, 1967Oil on canvas / Öl auf Leinwand / Óleo sobre lienzo133.5 × 119.5 cm© The Estate of Sarah Grilo; de las fotografías | all photographs: Archivo Helga de Alvear | Joaquín Cortés

Im zweiten Teil der Ausstellung entwickeln Cristina Iglesias, Susana Solano, Montserrat Soto und Carmen Laffón eine Poesie, die eng mit der Natur verbunden ist: Sie erzählen von Landschaften, die bedroht sind oder nur noch in Überlieferungen existieren. Erlea Maneros Zabala und Ángela de la Cruz stellen die Kunstgeschichte – hier die Geschichte der Helden in der von Männern dominierten Malerei – infrage. Eulàlia Valldosera und Dora García laden mit filmischen Sequenzen, Texten und Zitaten dazu ein, über Frauen und ihre historischen Rollen in Bezug auf Liebe, Sexualität und Familie nachzudenken.  

Carmen Láffon La sal. Salinas de Bonanza, Sanlúcar de Barrameda, 2017–19Oil, tempera, and charcoal on wood / Öl, Tempera und Holzkohle auf Holz / Óleo, tempera y carbón sobre madera153 × 280 cm© VG Bild-Kunst, Bonn 2022; de las fotografías | all photographs: Archivo Helga de Alvear | Joaquín Cortés
Ángela de la Cruz Vertical, 2004 Oil on canvas and wood / Öl auf Leinwand und Holz / Óleo sobre tela y madera171 × 39 × 28 cm© Ángela de la Cruz; de las fotografías | all photographs: Archivo Helga de Alvear | Joaquín Cortés

 

Alle Werke stammen aus der Sammlung von Helga de Alvear, einer führenden Galeristin und Kunstsammlerin Spaniens. Seit Entstehung der Sammlung in den 1960er-Jahren hat sich die politische, soziale und kulturelle Realität Spaniens grundlegend gewandelt. Das Ende der vierzigjährigen Militärdiktatur im Jahr 1975, der Übergang zur Demokratie und der Beitritt zur Europäischen Union wurden von einem gesellschaftlichen Umbruch begleitet, in dem junge Menschen und insbesondere Frauen die Hauptrolle übernahmen. Diese Realität hat sich auch auf die Künstlerinnen ausgewirkt und spiegelt sich seitdem in ihren Werken und einer steigenden Präsenz in Ausstellungen. Aber sie bleibt auch – wie überall auf der Welt – ein Thema, für das es sich weiterhin zu kämpfen lohnt. 

Die Präsentation schildert die Welt aus weiblicher Perspektive. »Schreibt all ihre Namen« – den Namen jeder einzelnen auf Seiten, die zuvor von anderen zur Geschichtsschreibung beansprucht wurden. Denn etwas zu benennen, erzeugt Bedeutung und symbolische Ordnung.  

 

Text Lola Hinojosa Martínez, Kuratorin der Ausstellung und Sammlungsleiterin am Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid 

 

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