Wie sehr uns die Bilder berühren

Heinz Peter Knes, aus der Serie »Gesture Studies«, 2021. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Heinz Peter Knes 
Der European Month of Photography präsentiert ein Medium in vielen Facetten. Dass Fotografie unsere Sicht auf die Wirklichkeit schärfen kann, zeigt vor allem die Jubiläumsausstellung »Touch« 
Helga Paris, »Pauer«, aus der Serie »Berliner Jugendliche«, 1982, Silbergelatineprint, 23,1 × 15,3 cm, courtesy Helga Paris / Kicken Berlin. © Helga Paris 

Diesen März feiern wir die zehnte Ausgabe des EMOP Berlin – European Month of Photography und damit zwanzig Jahre Fotofestivalkultur in der Hauptstadt. Berlin ist im Verbund mit seinen europäischen Partnerstädten Brüssel, Lissabon, Luxemburg, Paris und Wien eine der zentralen Spielstätten mit eigenem Programm, das nicht nur die Vielfalt fotografischer Diskurse sichtbar macht, sondern über Bilder auch Signale zur gegenwärtigen europäischen Verfasstheit (nicht nur) in seine europäischen Partnerstädte aussendet. Denn Bilder, zumal fotografische, zeigen, wie wir gelebt haben und leben.  

Yalda Afsah, Filmstill aus »SSCR«, 2022, HD-Film, Farbe, Ton, 20 min. © Yalda Afsah 

Das Berliner Fotofestival ist seit Beginn – über seine nationalen und internationalen Akteur*innen hinaus, die jeweils involviert sind – immer auch Ausdruck der Heterogenität und Diversität der Stadt. So bildet auch die kommende Ausgabe unter dem Leitmotiv »Touch« mit einem umfangreichen Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm nationale wie internationale Entwicklungen der historischen und zeitgenössischen Fotografie ab. Gleichzeitig erhalten lokale Netzwerke unter dem gemeinsamen Dach des Festivals für einen Monat verstärkte Sichtbarkeit. Mit rund hundert Ausstellungen in allen Berliner Stadtbezirken legt sich auch 2023 ein Netz fotografischer Fixpunkte über die Stadt, das in große Museen, kommunale und private Galerien, Kulturinstitute und Botschaften, aber auch in Ausbildungsstätten und viele Off-Spaces führt. 

Das vielstimmige Nebeneinander der fotografischen Szenen Berlins steht im Fokus der Jubiläumsausstellung »Touch. Politiken der Berührung« im Amtsalon. Vierzig in Berlin lebende Künstler*innen unterschiedlicher Generationen und Herkünfte – von Helga Paris bis Luise Marchand, von Herbert Tobias bis Paul Hutchinson – werden zueinander in Beziehung gebracht: »get in touch«! Das Motiv des Kontakts aber reicht weiter: Verstärkt durch die Erfahrung einer Pandemie wünschen wir uns Berührung – »being touched«. Wie aber können wir uns von Bildern berühren lassen? Ohne die Möglichkeit, sie anzufassen, wirken in der Betrachtung Mechanismen von Nähe und Distanz und fordern ein nicht-taktiles Sensorium der Berührung. Die technologischen Entwicklungen wiederum scheinen Momente der Distanz zur Abbildung aufzulösen: »Touch devices« suggerieren eine größere Nähe zum Objekt der Aufnahme. Wie verändert sich infolgedessen das Verhältnis von taktiler und optischer Wahrnehmung? Welchen Einfluss hat die Omnipräsenz digitaler Bilder in materiell ausformulierten künstlerischen Arbeiten? Mit der Montage fotografischer oder fotografiebasierter Bilder geht die Ausstellung diesen Fragen nach und sensibilisiert für die Bedeutung von Fotografie in künstlerischen Zusammenhängen.  

Akteur*innen aus Theorie, Praxis und Vermittlung kommen während der Opening Days zu aktuellen Themen ins Gespräch. Wir diskutieren mit Künstler*innen über den gesellschaftspolitischen Auftrag der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie, mit einem Fokus auf fotografischen Dokumentationen der postmigrantischen Gesellschaft und Verhandlungen von identitätspolitischen Fragen. Welche blinden Flecke fotografische Archive aufweisen, wie Fotograf*innen künstlerisch-performativ in sie intervenieren bzw. eigene Archive anlegen, ist ein weiterer Schwerpunkt. Auch wird sondiert, wie angesichts von Klimawandel und Energiekrise nachhaltige Produktionsweisen in der fotografischen Kunst forciert werden können und was dies für die zukünftige Sicherung und Bewahrung bedeutet. In der Überzeugung, dass Kunst Brücken bauen kann, werden wir auch auf aktuelle politische Entwicklungen eingehen. So geben wir im Rahmen der Opening Days der wohl wichtigsten fotografischen Bewegung in der Ukraine, der Kharkiv School of Photography, Raum. Es wird um die kriegsbedingte Exilierung, über fünfzig Jahre nach Gründung dieser Institution, gehen und wie fotografisch-künstlerisch auf den Ausbruch eines Krieges in Europa reagiert wird.  

Paul Hutchinson, »Glare«, 2020, 50 x 70 cm, Inkjet-Print. © Paul Hutchinson / VG Bild-Kunst, Bonn 2023 
Annette Frick, aus der Serie »Gunter«, 1995, Handabzug der Künstlerin, Silbergelatine-Barytpapier, 24 × 18 cm, courtesy Annette Frick und ChertLüdde, Berlin. © Annette Frick / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 

Zudem haben wir zwei weitere Formate mit Akualitätsbezug entwickelt – die EMOP Specials. In »Archivgespräche: Disruptionen des 20. Jahrhunderts« finden an sechs Nachmittagen im März Führungen durch Fotoarchive und Gespräche mit Expert*innen statt. Unter anderem in der Berlinischen Galerie, im Walter Benjamin Archiv und im Deutschen Historischen Museum werden historische Dokumente gezeigt, die nur selten den Weg an die Museumswand finden. Bilder und andere Archivalien stellen einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen vergangener Kriege und dem aktuellen Krieg her. Es zeigt sich, dass zivilisatorischer Fortschritt keine fortlaufende Entwicklung ist, sondern gerade in fragilen politischen Stimmungslagen immer wieder neu errungen werden muss.  

»Drängende Gegenwart« ist eine Gemeinschaftsausstellung der Berliner Ausbildungsstätten für Fotografie – vom Lette Verein bis zur Ostkreuzschule. Die Arbeiten der Studierenden reflektieren die gesellschaftlichen und sozialen Umbrüche und Herausforderungen infolge vielfältiger Krisen. Erstmals erhalten die jungen Fotograf*innen in dieser Form einen Ort und eine Stimme auf dem Festival. Zugleich würdigt das Projekt die Vielfalt der Fotografieausbildung und die Arbeit privater und öffentlicher Bildungsinstitutionen.  

 

Kristin Loschert, ohne Titel, aus der Serie »A Letter«, seit 2013, Stapel von Barytprints und C-Prints, Stahl, Glas, Holz, Text. © Kristin Loschert, VG Bild-Kunst, Bonn 2022 

 

Was ist die Aufgabe eines Fotografiefestivals, da doch das Medium längst in den großen Museen der Welt präsent ist? Der Fotografie jetzt einen herausragenden Stellenwert einzuräumen, ist gerade mit Blick auf den enormen technologischen und sozialen Wandel, den das Medium durchlaufen hat, nötiger denn je. Zwanzig Jahre EMOP Berlin – European Month of Photography sind auch zwei Jahrzehnte Entwicklung der Fotografie hin zu einem immer präsenteren und stärker sozial verwendeten Medium. Deshalb muss es heute verstärkt darum gehen, das Medium in all seinen Facetten kritisch-reflexiv zu befragen und mit Bildern unsere Sicht auf die Wirklichkeit zu schärfen. Dies kann nur gelingen, wenn wir aufblicken vom Strudel der Bilder in den sozialen Medien, stattdessen die konkrete Begegnung suchen und uns von künstlerisch-fotografischen Bildern (wieder) berühren lassen. »Touch« – so lautet nicht nur das Leitmotiv der Festivalausgabe 2023, es ist uns auch programmatischer Auftrag.  

Text Maren Lübbke-Tidow, künstlerische Leitung EMOP Berlin – European Month of Photography 

 

Heinz Peter Knes, aus der Serie »Gesture Studies«, 2021. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Heinz Peter Knes 
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